Analytischen Betrachtungen von Bach’schen Kompositionen, welche die mittlerweile nicht mehr länger in Abrede zu stellende Tatsache eines im Hintergrund waltenden hexachordalen Tiefensystems – mit all seinen Konsequenzen – außer Acht lassen, sollte man nach dem heutigen Stand der Dinge mit einer gewissen Vorsicht begegnen. Eine ähnliche Vorsicht – ja mitunter sogar Skepsis – gegenüber der bedenkenlosen Anwendung von Fachbegriffen der »modernen Theorie« auf die Musik des Barock kann man mittlerweile in den Schriften von Carl Dahlhaus, Siegbert Rampe, Bernhard Meier, Ulrich Kaiser, Gerd Zacher, Thomas Daniel, um nur einige zu nennen, herauslesen.
So sind zum Beispiel in der analytischen Betrachtung eines Bach-Chorals Begriffe wie Leittonwechselklang der Molldominante, verdurter Parallelklang der Unterdominante, Mollsubdominantdurgegenklang etc. genau genommen völlig fehl am Platz, weil weder die Modus- und Hexachordlehre, noch die Kontrapunkt- und Generalbasslehre mit diesen Termini hantiert, die zum Teil 100 Jahre und mehr nach Bachs Tod erst retrospektiv erfunden wurden und daher in Bezug auf seine Musik als anachronistisch bezeichnet werden dürfen. Zacher spricht sinngemäß sogar von »modernem Umstandsdenken«.
In diesem Zusammenhang ist ein Zitat des Bachsohnes Carl Philipp Emanuel bemerkenswert:
»Daß meine und meines seligen Vaters Grundsätze
antirameauisch sind, können sie laut sagen.«
(Carl Philipp Emanuel Bach) [32]Jonas, Oswald: Einführung in die Lehre Heinrich Schenkers. Das Wesen des musikalischen Kunstwerkes. Universal Edition No. 26.202, Wien 1972. S. 100
1722 publiziert Jean-Philippe Rameau (1683–1764) sein theoretisches Werk »Traité de l’Harmonie«, durch welches er gleichsam zum Protagonisten der heutigen »modernen Harmonielehre«, bis hin zur »Akkord-Skalentheorie« des Jazz wird. Seine Theorie der Dominanten und Subdominanten, seine neue Idee eines nicht real erklingenden, sondern bloß vorgestellten, imaginären »basse fondamentale« werden später im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. [33]Daniel, Thomas: Der Choralsatz bei Bach und seinen Zeitgenossen, eine historische Satzlehre. Verlag Christoph Dohr, Köln 2004 S. 24–60
1722 stellt Bach am Fürstenhof in Anhalt-Köthen den ersten Band des »Wohltemperierten Klaviers« fertig und verwendet im Titel ausschließlich Termini des Hexachordsystems. Gleichzeitig bekennt er sich aber zur »modernen Ordnung« der 2 × 12 = 24 (Dur- und Moll-) Tonarten.
Heute stellt sich die Frage warum die Musik eines nachweisbar »antirameauisch« eingestellten J. S. Bach so lange Zeit fast ausschließlich mit dem geistigen Instrumentarium ausgerechnet jener Theoriesysteme untersucht wurde, welche letztendlich auf Rameaus Ideen zurückzuführen sind, ohne deswegen gleich dreist und besserwisserisch die Ergebnisse solcher Untersuchungen apodiktisch als »falsch« hinstellen zu wollen.
Viele dieser »nachträglichen« Erklärungsmodelle bzw. Lehrgebäude (unter ihnen: Fundamentalbass-, Stufen- und Funktionstheorie) leisten erwiesenermaßen wertvolle Dienste, wenn man sie dort, wo sie tatsächlich greifen, in der Analyse mit einbindet. [34]Daniel, Thomas: Der Choralsatz bei Bach und seinen Zeitgenossen, eine historische Satzlehre. Verlag Christoph Dohr, Köln 2004 S. 24–60 Auch gegen die moderne Solmisationsweise do – re – mi – fa – sol – la – si – do ist aufgrund ihrer Einfachheit in der musikalischen Praxis nichts einzuwenden. Dass sie aber in der Analyse schon bei Bach’schen Denksprüchen versagt, wurde hier aufgezeigt.
Fest steht:
Bach und sein Kreis verhielten sich gegenüber Rameaus theoretischen Ansichten eher distanziert bis ablehnend.
Dazu abschließend zwei Zitate von Johann Philipp Kirnberger:
»Rameau hat diese Lehre mit soviel Ungereimtheiten angefüllt, daß man sich billig wundern muß, wie dergleichen Extravaganzen unter uns Deutschen haben Glauben, ja Verfechter finden können, da wir doch beständig die größten Harmonisten unter uns gehabt, deren Art mit der Harmonie umzugehen gewiß nicht nach Rameaus Lehrsätzen zu erklären war. Man ging hierin soweit, daß man lieber einem Bach die Gründlichkeit seines Verfahrens in Ansehung der Behandlung und Fortschreitung der Akkorde absprechen, als zugestehen wollte, daß der Franzose fehlen konnte.« [35]Jonas, Oswald: Einführung in die Lehre Heinrich Schenkers Das Wesen des musikalischen Kunstwerkes. Universal Edition No. 26.202, Wien 1972. S. 101. Anm.: Jonas zitiert aus Kirnbergers Publikation: Die wahren Grundsätze zum Gebrauch der Harmonie, nach Kirnbergers Unterricht verfasst von J. A. P. Schulz. Berlin Königsberg 1773
»Viele haben sich durch die französischen Schriftsteller bereden lassen, daß man diese einfache Lehre von der Harmonie dem Rameau zu verdanken habe, den man in Frankreich gerne für den ersten gründlichen Lehrer der Harmonie anpreisen möchte. Indessen ist nichts gewisser, als daß eben diese Lehre von den Grundakkorden und der aus ihren Verwechslungen entstehenden Mannigfaltigkeit, alten deutschen Tonsetzern lange ehe Rameau geschrieben, besser und gründlicher als ihm bekannt gewesen. Er selbst hat die Lehre von der Einfalt der Harmonie noch nicht in ihrer Reinigkeit gefaßt, da er wirklich durchgehende Töne bisweilen als Fundamentaltöne ansieht, auf welchen Grund zum Beispiel sein Akkord de sixte ajoutée, den er für einen Grundakkord hält, gebaut ist.« [36]Kirnberger, Johann Philipp: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik. Berlin und Königsberg, 1776–79 Unveränderter Nachdruck, Georg Olms Verlag, Hildesheim 1988 S. 248–249
Allein die Aussage Kirnbergers, dass man Bachs Art und Weise mit der Harmonie umzugehen ganz gewiss nicht mit Hilfe der Lehrsätze Rameaus erklären könne, sollte heute Anlass zum Nachdenken geben.
Walter Ernst Haberl